Coronathon

 

Liebe Bewegungsfreudige!

 

 

 

In den letzten Monaten mussten und bis heute müssen wir auf viele unserer sozialen Aktivitäten verzichten. Große Lernaufgaben hatten und haben wir zu bewältigen, unser Adaptationsvermögen und unsere Resilienz werden durch die Pandemie umfassend geprüft. Des Vergleichs, der sich mir auf aufdrängt, bediente sich zwar schon vor mehreren Monaten ein ranghoher Politiker. Doch möchte ich ihn hier vertiefen:

 

Es ist, als ob wir mitten in einem Marathonlauf stecken würden, an dem wir unfreiwillig teilnehmen. Hinzu kommt, dass wir eigentlich mehr an 10 km Laufstrecke als an über 42 km gewöhnt sind, sodass wir auf keine passenden Erfahrungs- und Konditionswerte zurückgreifen können. Das Gute an dem Ganzen: Der Mensch ist sehr anpassungsfähig und wächst mit seinen Herausforderungen.

 

Die heutige Herausforderung ist, dass wir nicht wissen, wie viele Kilometer wir noch zu laufen haben, was uns eine taktisch sinnvolle Einteilung unserer Kraftreserven verunmöglicht. Wir sind also der aktuellen Situation ausgeliefert und uns bleibt nichts anderes übrig, als genau jetzt und hier das Beste aus ihr zu machen. Wie?

 

Würde es sich tatsächlich um einen Lauf handeln, könnte ich jetzt auf den Hintergründen meiner sportwissenschaftlichen Profession und meiner eigenen läuferischen Erfahrung Folgendes von mir geben:

 

Jetzt gerade, wo sich große Müdigkeit in uns breit macht, unsere Beine wie bleiern sind, wir das Gefühl haben, am Boden entlang zu schlurfen, und die Lauffreude der ersten Kilometer einer erschöpften Lustlosigkeit gewichen ist, ja – jetzt gerade geht es um viel. Uns ist klar geworden, dass es keinen anderen Weg gibt als den vor uns, der uns irgendwann an dieses uns lockende Ziel fühlt. Somit ist das Gebot der Stunde, das Laufen, diese sich ständig wiederholende Bewegung, diesen dauernden Wechsel aus Abdruck und Aufkommen, zu transzendieren. Es geht darum, den Wert dieser Bewegung zu erkennen, die Bewegung mit unseren Sinnen zu erforschen, sie sinnlich zu erspüren, ihren Sinn zu erlaufen. Nichts ist gerade sinnvoller als die Reduktion unseres Seins auf diese vermeintlich monotone Bewegung, in der wir gefangen zu sein scheinen – oder eben auch nicht. In ihr liegt eine uns bisher unerkannte Weite und Intensität:

 

Unsere Schritte werden von einem Boden getragen, der in unterschiedlichen Oberflächen und Konsistenzen unseren Füßen begegnet. Was immer gleich bleibt ist der beständige Widerstand, den er uns leistet. Wir verlassen uns mit unserem ganzen Sein auf diesen Widerstand, auf diese treue Begegnung. Unsere Füße wiederum haben ihre ganz individuelle Beziehung mit dem Boden. Sie schlagen, drücken, stoßen und/oder schieben. Im Moment des Aufkommens passen sie sich in ihrer Form dem Boden an und in minimaler Weise formen sie den Boden. Fuß und Boden beziehen sich aufeinander. Und unser Körper formt sich auf der Grundlage dieses über unsere Füße realisierten Bodenkontakts, in schwingender, kräftiger, verschraubter, immer wieder Seite wechselnder Weise. Jeder Schritt ist ein ausgeklügeltes Meisterwerk.

 

Begleitet werden unsere Schritte von unserem unaufhörlichen Atmen. Durch die Beachtung, die wir ihm schenken, gewinnt es an Tiefe. Voller Freude öffnet sich die Lunge der frischen Luft entgegen. Einströmen und ausfließen lassen. Wir können uns entscheiden, Hoffnung, Zuversicht, Lebensfreude einzuatmen und Verbrauchtes abzugeben. Unablässig und immer wieder, dem Rhythmus treu, der sich in der Harmonie mit unseren Schritten gebildet hat. Unser Körper macht Musik.

 

In der Vergegenwärtigung dieses faszinierenden und zugleich einfachen, sich wiederholenden Ablaufs ist möglicherweise die Mühsal des Laufens einer Lust daran gewichen.

 

Dass wir als Menschen fähig sind, in unseren Lebensaufgaben – und seien sie manches Mal noch so schwierig zu bewältigen – Sinn zu finden, kann uns Hoffnung geben. Wir sind begabt, unseren Herausforderungen sinnlich zu begegnen: Wir können die Gegenwart mit unseren Sinnen und verschiedensten sinnlichen und kreativen Tätigkeiten und Herangehensweisen zu erfassen suchen. Und so werden wir präsent und offen für die berührenden Aspekte unseres Lebens.

 

Ob dies nur für einen Marathonlauf gilt, sei hier in den Raum gestellt…